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Als die Wirtschaftskrise Europa erreichte, pries die Europäische Kommission Haushaltsdisziplin und Austerität als unerlässlich, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten und zu verbessern. Ein Jahrzehnt später geht es der Wirtschaft besser, aber nach Jahren der Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Stagnation und eines fallenden Lebensniveaus hat die Krise nicht nur eine wirtschaftliche Dimension, sondern auch eine politische.

Nur wenige Tage nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich, in denen die extreme Rechte in die zweite Runde einzog, und angesichts der noch anstehenden vielfältigen Schwierigkeiten des Brexits hat Brüssel die beiseite geschobene soziale Agenda wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, u.a. mit der Ankündigung einer Europäischen Säule sozialer Rechte, einem Paket zur Vereinbarung von Beruf und Privatlebensowie verschiedenen Arbeitspapieren der Kommissionsdienststellen, in denen ausgewertet wird, wie weit die Empfehlungen der Kommission zur aktiven Inklusion und für Investitionen in Kinder umgesetzt worden sind.

Als die Beratungen zur Europäische Säule sozialer Rechte im März letzten Jahres begannen, unterstrich die Kommission die Notwendigkeit einer Angleichung nach oben. In der guten alten Zeit wirkten Binnenmarkt und europäische Fonds auf die Verringerung der Einkommensunterschiede pro Kopf hin.  Doch diese Zeiten sind vorbei. In einem Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas von Ende April gesteht die Europäische Kommission ein, dass trotz des Aufschwungs die Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen fortbestehen und dass sich in den letzten Jahren „die Konvergenz […] erheblich verlangsamt [hat], wenn sie nicht gar zum Stillstand gekommen ist. “ Vor allem für junge Menschen ist die Situation besorgniserregend: „Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besteht die reale Gefahr, dass die heutigen jungen Erwachsenen […] möglicherweise schlechter dastehen werden als ihre Eltern“, räumt die Europäische Kommission ein.

Die angekündigte Europäische Säule sozialer Rechte vereint eine Mischung allgemeiner und spezifischerer Grundsätze im Bereich der sozialen Sicherung. Diese Grundsätze umfassen das „Recht von Kindern auf Zugang zu bezahlbarer frühkindlicher Bildung und Betreuung“ und das auf „Schutz vor Armut“, was angesichts dessen, dass das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung für Kinder höher ist als für Erwachsene, sehr zu begrüßen ist. Dennoch ist die Kommission vor einem EU-weiten Anspruch auf Kinderbetreuung zurückgeschreckt, der die Rechte von Kindern hätte stärken können.

Die Kommission hat auch neue Bestimmungen erlassen, wie z. B. das Recht auf sozialen Schutz für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einschließlich der Selbständigen und „unabhängig von Art und Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses.“ Sie hat auch in eine Empfehlung aufgenommen, dass „Verträge in allen Ländern grundlegende Informationen über Arbeitnehmerrechte enthalten sollen“ und eingestanden, dass dies in mehreren Mitgliedsländern nicht der Fall ist.

Andere Rechte sind konkreter, z. B. wird in dem Dokument das Recht junger Menschen auf eine „Weiterbildungsmaßnahme, einen Ausbildungsplatz, einen Praktikumsplatz oder ein qualitativ hochwertiges Beschäftigungsangebot von gutem Ansehen innerhalb von vier Monaten, nachdem sie arbeitslos geworden sind oder ihre Ausbildung abgeschlossen haben“, anerkannt. Allerdings ist es der Kommission nicht gelungen, eine Betreuungsgarantie für Kinder voranzubringen, die nicht nur den Zugang zu frühkindlicher Bildung und Kinderbetreuung umfasst (dieser wird in der Säule der Kommission beschrieben), sondern auch zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum und zu einer effektiven Unterstützung durch soziale Dienste. Das gleiche trifft auf gefährdete Jugendliche zu, die neben einer Beschäftigungsgarantie auch von zusätzlicher Hilfe profitieren würden.

Die entscheidende Frage ist, inwieweit sich diese Leistungen auf eine gesetzgeberische Agenda oder einen Leistungsvergleich beziehen. Werden beispielsweise junge Menschen in die Lage versetzt, ihre Regierungen zu verklagen, wenn sie kein Arbeitsangebot innerhalb von vier Monaten nach Beginn der Arbeitslosigkeit erhalten? Wird es Indikatoren für die Art der Jobs geben, die junge Menschen erhalten? Wenn diese unsicher oder schlecht bezahlt sind, können die Beschäftigungszahlen zwar ansteigen, doch die Annäherung der Einkommen wird so nicht erreicht werden. So wie die Dinge jetzt stehen bleibt die Säule eher eine Ansammlung von Grundsätzen als eine tatsächliche Verpflichtung bestimmte Rechte oder Ansprüche zu gewähren.

Flankiert wurde die Ankündigung der Säule von einem ‚sozialpolitischen Scoreboard‘ mit Kennziffern in Bereichen wie Bildung, Gendergerechtigkeit und Lebensbedingungen. Zwar ist ein Kennzahlensystem essentiell für Monitoring, es ist aber auch wichtig, wie diese Bestrebungen in die Gesetzgebung einfließen und die Gesetzgebung in die Praxis umgesetzt wird. Das sozialpolitische Scoreboard könnte ehrgeiziger sein, beispielsweise durch eine Aufschlüsselung der Daten nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Alter, Beeinträchtigung oder Haushaltszusammensetzung, um eine Reihe von Schwachstellen beim Messen der Lebensbedingungen zu erklären. Es bleibt abzuwarten, welches Gewicht den Indikatoren im sozialpolitischen Scoreboard im Vergleich zu denen im makroökonomischen Scoreboard im Rahmen des EU-Koordinierungsprozesses zwischen der Europäischen Kommission und den Mitgliedsstaaten beigemessen werden wird.

Es ist nicht klar, welche Arten von Gesetzesinitiativen entwickelt werden, damit die in der Säule enthaltenen Grundsätze und Rechte umgesetzt werden. Insbesondere bleibt vage, wie die Säule zu einem Neubeginn des Konvergenzprozesses innerhalb Europas über die Eurozone hinaus beitragen wird, da die Säule zunächst nur die Euro-Länder abdecken soll. Es wäre auch sinnvoll, wenn sich die künftige Arbeit damit befassen würde, wie und durch wen die in jedem einzelnen Grundsatz hervorgehobenen Themen angegangen werden sollen – unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen der Regierungsverantwortung. Es muss auch geklärt werden, wie die europäischen Fonds die Umsetzung wesentlicher Aspekte der Säule fördern können.

Schließlich sollte betont werden, dass die Grundsätze aus der Säule in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden müssen, von denen die Menschen in ganz Europa, einschließlich der sozial Schwachen, profitieren. Außerdem sind Instrumentarien notwendig, um Fortschritte messen und nachverfolgen zu können.

Für weitere Informationen und die Position des ESN zur Säule sozialer Rechte besuchen Sie unsere Webseite: http://www.esn-eu.org/news/878/index.html