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Die Europäische Kommission hat am 17. September ihre Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021 (ASGS) veröffentlicht. In dem Dokument werden die allgemeinen wirtschaftlichen Prioritäten der EU für das kommende Jahr festgelegt und Leitlinien für die nationale Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF) aufgestellt – finanzielle Unterstützung für nationale Reformen, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie zu mildern.

Aufbaufonds und politische Reformen: Eine vertane Chance

In der Regel bildet die ASGS den Auftakt zum Europäischen Semester für die wirtschaftspolitische Koordinierung zwischen der Europäischen Kommission und den EU-Mitgliedstaten, das die frühere offene Methode der Koordinierung ersetzt hat. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob das Europäische Semester hauptsächlich durch haushaltspolitische Erwägungen angetrieben und der zunehmenden sozialen Ungleichheit daher nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Europäische Kommission bemüht sich, diese mangelnde Aufmerksamkeit zu überwinden und andere Ressorts besser zu beteiligen, wobei die Zusammenarbeit mit der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Inklusion bereits begonnen wurde.

Inzwischen ist ungewiss, wie der Prozess des Europäischen Semesters im nächsten Jahr weitergehen wird. Da sich die Fristen innerhalb des Europäischen Semesters und der RRF überschneiden, ist es nach Ansicht der Europäischen Kommission notwendig, das Semester vorübergehend anzupassen. Im Rahmen des Semesters veröffentlicht die Europäische Kommission jedes Jahr im Februar Berichte, in denen sie die Situation in den Ländern analysiert, gefolgt von spezifischen Länderempfehlungen im Mai, die nicht nur ökonomische, sondern auch ökologische und soziale Fragen abdecken. Im Jahr 2021 werden jedoch weder ein Bericht noch Empfehlungen veröffentlicht werden, aber die Kommission wird im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, der die Haushaltskonsolidierung vorantreibt, Empfehlungen zur Haushaltslage der EU-Mitgliedsstaaten für 2021 unterbreiten, was deutlich macht, dass ihre Prioritäten offensichtlich auf haushaltspolitische Erwägungen gerichtet sind.

Die ASGS betont, dass die RRF und das Europäische Semester miteinander verbunden werden sollten, da „die Prioritäten der Union, wie sie in den länderspezifischen Empfehlungen dargelegt werden, sich in der Schwerpunktsetzung (bei Reformen) der EU-Mitgliedsstaaten wiederfinden sollten.“ Zu den wichtigsten von der Kommission dargelegten Prioritäten gehören: die Bekämpfung von Korruption, Geldwäsche und Betrug, eine Verbesserung des Unternehmensumfelds, eine wirksame öffentliche Verwaltung und effiziente Justizsysteme sowie der Kampf gegen eine aggressive Steuerpolitik. Trotz des hohen Aufwands für die sozialen Dienste und die Systeme der Sozialfürsorge infolge der Corona-Krise scheinen die sozialen Auswirkungen der Pandemie in den Vorschlägen der Kommission weitgehend vernachlässigt zu werden.

Die Kommission hofft, dass die im Juli von den EU-Staats- und Regierungschefs vereinbarte finanzielle Regelung den Mitgliedstaaten helfen wird, die im Rahmen des Europäischen Semesters ausgemachten Herausforderungen zu bewältigen und die politischen Ziele der EU zu erreichen, insbesondere mit Blick auf den grünen und digitalen Wandel. Die Realität sieht jedoch so aus, dass der Löwenanteil der vereinbarten 672,5 Milliarden Euro in Form von Darlehen und Zuschüssen für ökonomische und finanzpolitische Ziele verwendet werden soll. Diese offensichtliche Schwerpunktsetzung auf die Finanzen anstelle sozialer Prioritäten steht nicht im Einklang mit der Strategie Europa 2020, die ein verbindliches Ziel zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung enthält. Die Aufmerksamkeit auf dieses Versprechen scheint mit der Zeit nachgelassen zu haben.

Soziale Dienste und soziale Fürsorge: Bedarf an Investitionen

In ihren Leitlinien für die nationale Umsetzung der RRF schlägt die Kommission den nationalen Behörden vor, ihre arbeitsmarkt-, bildungs-, gesundheits- und sozialpolitischen Reformen wie folgt zu gestalten: „Weiterbilden und Umschulen, Segmentierung des Arbeitsmarktes verringern, Leistungen für Kurzarbeitsregelungen und bei Arbeitslosigkeit verbessern, Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Arbeitsmarktbeteiligung verbessern – einschließlich gefährdeter Gruppen, Widerstandsfähigkeit, Zugänglichkeit und Wirksamkeit des Gesundheits- und Pflegesystems verbessern sowie den Sozialschutz stärken (einschließlich Langzeitpflege).“

Diese Vorschläge betreffen jedoch nicht die sozialen Dienste und den Pflegebereich, die seit Jahren damit zu kämpfen haben, dass in ganz Europa nicht ausreichend in das öffentliche Gesundheits- und Pflegewesen investiert wird. In der Provinz Barcelona beispielsweise erreicht die häusliche Pflege nur 20 % der Personen, die als unterstützungsbedürftig eingestuft wurden, und diejenigen, die Pflegeleistungen beziehen, erhalten durchschnittlich lediglich 13 Stunden Pflege pro Monat. In Katalonien gibt es nur drei Sozialarbeiter und zwei Sozialpädagogen pro 15.000 Einwohner, eine Zahl, die seit der letzten Finanzkrise 2008 unverändert geblieben ist.

Neben der langfristigen Unterfinanzierung in diesem Sektor hat Covid-19 die europäischen Pflegeheime erfasst und Zehntausende von Bewohnern getötet. Laut den Daten aus mehreren Ländern macht die Zahl der Menschen, die im Pflegeheim an Covid-19 gestorben sind, im Durchschnitt die Hälfte aller Opfer aus. Eine kürzlich in der nordspanischen Region Navarra durchgeführte Studie kam zu dem Schluss, dass die Sterblichkeitsraten in jenen Pflegeheimen höher waren, wo viele Bewohner lebten, wo der Personalschlüssel geringer war und wo es an persönlicher Schutzausrüstung mangelte.

Diese Daten zeigen, dass die nationalen Regierungen bei der Umsetzung der RRF in Strukturreformen investieren und das Modell der Heimpflege für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen in ein Modell umwandeln müssen, das vorsorgende kommunale Sozialdienste fördert, die häusliche Pflege stärkt, eine Pflege vor Ort für Menschen sicherstellt, die aus dem Krankenhaus entlassen wurden, und die derzeitigen Beschäftigungs- und Qualifizierungslücken in den sozialen Diensten und der Pflege behebt.

Die ASGS versäumt es, die nationalen Regierungen aufzufordern, ins Sozial- und Pflegewesen zu investieren. Dadurch werden auch die wirtschaftlichen Aspekte verkannt, die ein gut ausgestattetes Sozialwesen ausmachen und Erkenntnisse ignoriert, wonach Investitionen in diesen Bereich eine höhere Erwerbsbeteiligung gefährdeter Gruppen begünstigen würden. Gleichwohl deuten Eurostat-Daten darauf hin, dass in den sozialen Diensten und in der Pflege trotz des derzeitigen Fachkräftemangels einen beträchtlichen Teil aller Beschäftigten arbeitet. Allein im Bereich der stationären Pflege und in der Sozialarbeit sind etwa 11 Millionen Arbeitnehmer tätig, was 5 % der Erwerbstätigen in der EU entspricht.

Wir sind noch ganz am Anfang, aber erste Daten unserer Mitglieder deuten darauf hin, dass die Kosten für soziale Dienste während der Pandemie erheblich gestiegen sind und sie finanzielle Zuschüsse benötigen, um weiterhin eine stabile und nachhaltige Arbeit sicherzustellen. Zum Beispiel, haben, zwischen März und Juli, lokale öffentlichen Sozialdienste in Barcelona 45,000 Menschen unterstützt. Diese Zahl entspricht der Hälfte der Zahl hilfsbedürftiger Menschen im Jahr 2019. Darüber hinaus stellte die Stadt Barcelona 18.760 Notfallzulagen im Wert von 8 Mio. € zur Verfügung, mehr als doppelt so viel wie in 2019. Im nordfranzösischen Département Eure stieg die Zahl der Personen mit Mindesteinkommen um mehr als 5% zwischen April und Juli. In der belgischen Region Flandern warnen Direktoren der Sozialdienste, dass die Zahl der Nutzer sozialer Dienste während der Pandemie um mehr als 30% gestiegen ist. In England sind die Kosten für die Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen um 5% (jüngere Erwachsene) und 8% (ältere Menschen) gestiegen. Diese Kosten werden im Zuge der weiteren Digitalisierung sowie der Entwicklung von assistiven Technologien und Telepflege wahrscheinlich noch steigen, um besser auf die Bedürfnisse nach einer unabhängigen Lebensführung und Autonomie der jenigen Menschen einzugehen, die von den öffentlichen Sozialdiensten unterstützt werden.

Governance verbessern: Stärkung der kommunalen Umsetzung

In ihrer ASGS ermutigt die Europäische Kommission die EU-Mitgliedsstaaten schließlich, die Meinung ihrer nationalen Ausschüsse für Produktivität oder unabhängiger Finanzbehörden zu ihren Aufbau- und Resilienzplänen einzuholen. Die EU-Mitgliedstaaten werden außerdem aufgefordert, in dem Plan darzulegen, wie Sozialpartner und gegebenenfalls zivilgesellschaftliche Organisationen konsultiert und in die Gestaltung der Reformen einbezogen wurden.

Auf diese Weise setzt sich die schlechte Angewohnheit fort, das Mitwirken von Interessengruppen ausschließlich im Sinne eines Dialogs mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und NGOs zu verstehen. Dies widerspricht einem Verständnis, wonach Entscheidungen auf kommunaler Ebene getroffen werden müssen, wo die Menschen leben und ihre Familien versorgen. Die Abkopplung des europäischen Projekts vom bürgerschaftlichen Engagement ist daher keine Überraschung und die ASGS verkennt diese Realität erneut. Neben den Sozialpartnern und Wohlfahrtsverbänden müssen die kommunalen und regionalen Verwaltungen und die von ihnen geführten öffentlichen Sozialdienste ein wichtiger Partner sein.

Die Ausgaben für das Sozialwesen machen mehr als ein Fünftel aller öffentlichen Ausgaben auf regionaler und kommunaler Ebene aus, so dass das Sozialwesen ein zentraler Politikbereich ist, um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu fördern.